# 18/14

zum Referentenentwurf eines Gesetzes zur Einführung der elektronischen Akte in Strafsachen

 

A. Tenor der Stellungnahme

Gegen die Einführung von E-Akten im Strafverfahren bestehen keine grundsätzlichen Bedenken. Wegen der bislang aber weitgehend fehlenden praktischen Erfahrungen mit einer elektronischen Aktenführung im Strafrecht sieht der Deutsche Richterbund für die geplanten Regelungen derzeit keine Umsetzungschancen. Dies gilt umso mehr, als der nochmals verschärfte Zeitplan mit dem vorgesehenen Echtbetrieb einer E-Akte  (nebst der zuvor zu erlassenden Rechtsverordnungen) bereits zum 1.1.2016 nicht realistisch ist. Die bisher durchgeführten Modellprojekte und Pilotverfahren (etwa das Pilotprojekt zu „eIP“ am Landgericht Landshut oder das inzwischen abgeschlossene Projekt e2A in Nordrhein-Westfalen) beziehen sich nicht auf das Strafverfahren, sondern ausschließlich auf Zivilsachen.

 
B. Bewertung im Einzelnen


Der Deutsche Richterbund  verweist zunächst auf seine Stellungnahmen zu den Vorentwürfen vom Juli (Nr. 22/12) und Dezember (Nr. 30/12) 2012, deren Inhalte insbesondere im Hinblick auf unverändert gebliebene Vorschriften weiterhin gelten. Soweit der aktuelle Referentenentwurf die darin bereits erörterten Kritikpunkte nicht erledigt oder intensiviert, sehen wir uns veranlasst, diese nochmals aufzugreifen.

Der Deutsche Richterbund unterstützt nach wie vor die Intention des Gesetzentwurfs, den Einsatz elektronischer Informations- und Kommunikationstechnologie auch im Bereich des Strafverfahrens zu ermöglichen. Es kann aber nicht oft genug betont werden, dass der Fokus dabei vor allem auf der Nutzung der Vorteile für die Verfahrensführung und der funktionsgerechten Unterstützung der täglichen Arbeit der Anwender in den Gerichten und Staatsanwaltschaften liegen sollte.
 
Wegen der bislang weitgehend fehlenden praktischen Erfahrungen mit einer  elektronischen Aktenführung im Strafverfahren sehen wir allerdings für die geplanten Regelungen derzeit immer noch keine  Umsetzungsperspektive. Dies gilt umso mehr, als der im Gesetzentwurf nochmals verschärfte Zeitplan mit dem vorgesehenen Echtbetrieb einer E-Akte  (nebst zuvor zu erlassenden Rechtsverordnungen) zum 1.1.2016 nicht realistisch ist. Um das Projekt nicht insgesamt zu gefährden, sollte das gesamte Ermittlungs- und Strafverfahren in eine umfassende Konzeption zur flächendeckenden Einführung des elektronischen Rechtsverkehrs und von E-Akten in der deutschen Justiz eingeordnet werden. Dazu ist es sinnvoll, zunächst in Modell- oder Pilotprojekten praktische Erfahrungen zu sammeln.
 
Auf folgende Punkte möchten wir möchten besonders hinweisen:

1. Die flächendeckende Umstellung des Strafverfahrens auf elektronische Aktenführung ist ein ambitioniertes Vorhaben, das nur durch vertrauensvolle Zusammenarbeit mit allen Beteiligten, insbesondere den richterlichen und staatsanwaltschaftlichen Nutzern, aber auch allen übrigen Mitarbeitern der Justiz sowie dem Bund und den Ländern erreicht werden kann.

Der Erfolg des Vorhabens wird wesentlich davon abhängen, dass die Umstellung auf elektronische Informations- und Kommunikationstechnologie für die tägliche Arbeit am persönlichen Arbeitsplatz einen ganz konkreten und greifbaren Nutzen bringt. Dies setzt voraus, dass bei der Entwicklung von E-Akten und der Weiterentwicklung der Fachanwendungen vollständige Verfahrensabläufe  (d.h. von der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens etwa bei der Polizei bis zur Revisionsinstanz und der Strafvollstreckung) und der Konzeption möglichst umfassend praktische Erfahrungen aus den unterschiedlichen Bereichen und Verfahrensstadien zugrunde gelegt werden.

Die elektronische Akte wird in fast allen Fällen zunächst von der Polizei oder der Finanzverwaltung erstellt werden. Grundvoraussetzung für ihre Einführung ist daher, dass alle Polizeidienststellen des Bundes und der Länder sowie die Finanzverwaltung im Bereich Zoll und Steuerfahndung eine E-Akte erstellen und über entsprechende Schnittstellen an die Staatsanwaltschaften und Gerichte aller Länder und des Bundes übergeben können, welche den Vorgaben der Justiz für die E-Akte entsprechen.

Außerdem ist die Einbindung des Vorhabens in eine Gesamtstrategie des Bundes und der Länder zur flächendeckenden Einführung des elektronischen Rechtsverkehrs und der elektronischen Akte unabdingbar. Eine solche lässt sich der Begründung des Gesetzentwurfs aber nicht entnehmen.

a) Was der Gesetzentwurf unter einer „elektronischen Akte“ versteht, ist nicht definiert, sondern wird beschrieben als „ein definiertes System elektronisch gespeicherter Daten“ (Begründung zu § 32 StPO-E). Dies ist im Hinblick auf die schnell fortschreitende Entwicklung der Informationstechnik grundsätzlich sachgerecht. Allerdings wird dadurch umso wichtiger, dass Bund und Länder bei den für ihre jeweiligen Bereiche zu erlassenden Regelungen von gleichen Voraussetzungen ausgehen. Die Diskussion, was genau eine E-Akte ist und wie sie konzipiert sein soll, ist aber noch in vollem Gang. Sie wird momentan geprägt von den zur Umsetzung des Gesetzes zur Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs mit den Gerichten vom 10. Oktober 2013 von den Bundesländern eingeleiteten Schritten.  

b) Gerade im Bereich des Strafrechts ist zudem die Interoperabilität der Systeme aller Stellen, die Informationen in die Akten einspeisen („müssen“, so die Begründung zu § 32 Abs. 1 StPO-E) und aus dieser beziehen, besonders wichtig, um z.B. im Ermittlungsverfahren zwischen Polizei und Staatsanwaltschaft, und das möglicherweise noch über Ländergrenzen hinweg, Informationsverluste oder zumindest -verzögerungen zu vermeiden. Die Umsetzung des rechtlichen Rahmens der elektronischen Aktenführung hängt wesentlich von den vorhandenen oder absehbar realisierbaren technischen Möglichkeiten ab. Die technische Machbarkeit muss bei aller „Technikoffenheit“ im Rahmen der Normierung daher zwingend berücksichtigt werden. Auch müssen sich alle Beteiligten über die wesentlichen technischen Standards einig sein. Denn die Aktenführung auf der Grundlage unterschiedlicher Standards in einzelnen Ländern (oder gar bei einzelnen Gerichten,- und Staatsanwaltschaften und Polizeidienststellen) dürfte gerade im Strafverfahren zu einem immensen – sowohl zeit- als auch kostenintensiven – Mehraufwand infolge der dann entstehenden Medienbrüche führen, wenn nicht auf diese Weise sogar die Nutzbarkeit der elektronischen Akte als solche in Frage gestellt wird. Selbst unterschiedliche Standards für die verschiedenen Verfahrensarten dürften zudem kaum zur Akzeptanz der E-Akte beitragen. Auch vor diesem Hintergrund dürfte die Verpflichtung zum Erlass der jeweiligen Detailregelungen zur Aktenführung und zum Aktenaustausch bereits zum 1.1.2016 verfrüht sein.
   
c) Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wird erstmals eine (bundesrechtlich einheitliche) Verpflichtung zur elektronischen Aktenführung normiert, ohne dass erkennbare praktische Erfahrungen aus Pilotprojekten im Bereich des Strafrechts zugrunde liegen. Die in verschiedenen Bundesländern rund um das Thema durchgeführten Pilotierungen (etwa für die Darstellung am Arbeitsplatz das aktuelle Pilotprojekt zu „eIP“ am Landgericht Landshut oder das inzwischen abgeschlossene Projekt „e2A“ in Nordrhein-Westfalen) betreffen nicht das Strafverfahren, sondern ausschließlich Zivilsachen. In Bezug auf erfahrungsgemäß erst während der Einführungsphase auftretende Probleme müssen die bereits mehrfach auch für das Strafverfahren angemahnten belastbaren Prognosen und realistischen Verfahren zur Behebung entwickelt werden. Ohne diese Vorarbeiten, die Eingang in die gesetzlichen Regelungen finden sollten und deren Durchführung – soweit sie schon abgeschlossen sind – in der Gesetzesbegründung niedergelegt werden sollten, dürfte das ambitionierte Projekt einer flächendeckenden Einführung von E-Akten im Strafprozess keine tragfähige Umsetzungsperspektive haben.

d) Die Festschreibung der verbindlichen Verpflichtung zur elektronischen Aktenführung bereits zum 1.1.2016 erscheint vor diesem Hintergrund illusionär. Es sollte vielmehr gemeinsam mit den Bundesländern ein Entwicklungs- und Zeitplan für die Einführung der E-Akten aufgestellt und eine belastbare Simulation der Einführungsphase auf Grundlage von Pilotprojekten vorgenommen werden. Diese sollten dann dem Gesetzentwurf zugrunde gelegt werden. Eine Ersetzung dieser Vorgehensweise durch die in § 12 Abs. 2 StPOEG-E vorgesehenen gesetzesderogierenden „Opt-Out“-Rechtsverordnungen zur Verschiebung bis längstens zum 31.12.2023 erscheint (neben deren verfassungsrechtlicher Fragwürdigkeit) auch als eine Umkehrung der sachlich gebotenen Reihenfolge.

e) Wir regen an, die Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes näher zu begründen. In der Begründung zu § 32 Abs. 2 StPO-E wird in Bezug auf die der Bundesregierung und den Landesregierungen erteilten Verordnungsermächtigungen für Regelungen zur Aktenführung auf die jeweilige Organisationshoheit des Bundes und der Länder hingewiesen. Wie sich dies damit verträgt, dass § 32 Abs. 1 StPO-E durch Bundesgesetz eine bundeseinheitliche Regelung zur Aktenführung (nämlich die Verpflichtung zur elektronischen Aktenführung) enthält, ergibt sich aus der Begründung hingegen nicht. Die Auffassung, dass eine solche Regelung zur Aktenführung von der Gesetzgebungskompetenz des Bundes aus § 74 Abs. 1 Satz 1 GG (gerichtliches Verfahren oder Gerichtsverfassung) gedeckt ist, dürfte zumindest nicht unumstritten sein. Es gibt vielmehr auch gute Gründe für die Annahme, dass es sich um eine Regelung der Gerichtsorganisation handelt, für die die Länder (jeweils für ihren Bereich) nach Art. 30 und 70 Abs. 1 GG die Gesetzgebungszuständigkeit haben. 


2. Soweit ersichtlich, existieren bislang keine ausreichenden Untersuchungen und Studien zur Arbeitseffizienz und zu gesundheitlichen Fragen im Zusammenhang mit dem Einsatz elektronischer Akten in der Justiz. Damit die Umstellung auf elektronische Informations- und Kommunikationstechnologie zu einer Verbesserung der Arbeitsbedingungen (jedenfalls nicht zu deren Verschlechterung) führt, sind solche Studien zwingend erforderlich. Untersucht werden sollte insbesondere, welche Anforderungen an die eingesetzten Geräte im Interesse des Leseverstehens und der effektiven Aufnahme der gelesenen Inhalte sowie der Aktenbearbeitung zu stellen sind. Auch sollte geprüft werden, welche Maßnahmen zur Vorbeugung von Übermüdung und Schädigung der Augen notwendig sind.


3. Im Gesetzentwurf wird zu Recht darauf hingewiesen, dass eine belastbare Abschätzung der durch die flächendeckende Umstellung auf elektronische Aktenführung entstehenden Kosten derzeit nicht möglich ist. Dabei ist zudem zu bedenken, dass die in der Justiz der Bundesländer eingesetzten Fachanwendungen von den richterlichen und staatsanwaltlichen Nutzern derzeit nicht uneingeschränkt als Erleichterung und Verbesserung der Arbeitsbedingungen wahrgenommen werden. Bei der Konzeption der E-Akte wird daher neben deren Funktionalität und Ergonomie auch auf die weitere Verbesserung der Fachanwendungen ein besonderes Augenmerk zu richten sein.

a) Die Bearbeitung von E-Akten ausschließlich an Arbeitsplatzrechnern ist nicht akzeptabel. Das langfristige Lesen an „normalen“ Monitoren führt nach arbeitsmedizinischen Erkenntnissen zu schnellerer Ermüdung der Augen und abnehmender Konzentrationsfähigkeit. Nicht berücksichtigt sind bislang Kosten für notwendige Untersuchungen und Studien zu der Frage, welche Voraussetzungen die bei der E-Aktenführung einzusetzenden Geräte zur Sicherstellung einer effektiven und effizienten Arbeit im Justizbereich erfüllen müssen. Neben der Modernisierung der vorhandenen Hardware (z. B. mit größeren Arbeitsspeichern) wird auch die Anschaffung und fachgerechte Betreuung zusätzlicher Geräte, wie Zweit-Bildschirmen und mobiler Geräte (z. B. für die Durchführung der Hauptverhandlung, aber auch von Ortsterminen) notwendig sein. Ob dem die in der Begründung skizzierten einmaligen Kosten von ca. € 1.500 pro Arbeitsplatz gerecht werden, sollte einer kritischen Überprüfung unterzogen werden. Nicht berücksichtigt sind auch Mehrkosten durch die technische Umsetzung der geplanten Neuregelungen zur Akteneinsicht, etwa für die in § 32f Abs. 1 Satz 2 StPO-E vorgesehene Akteneinsicht in den Diensträumen oder in den Justizvollzugsanstalten.

b) Zu Recht weist die Begründung des Gesetzentwurfs darauf hin, dass Kosten in nicht unbeträchtlicher Höhe auch für die Schulung der Richter und Staatsanwälte sowie der übrigen Mitarbeiter in der Justiz entstehen werden. Die mit der Umstellung auf elektronische Aktenführung in anderen Ländern (z. B. in Österreich) gesammelten Erfahrungen haben gezeigt, dass umfangreiche und fortlaufende Schulungen und insbesondere eine spontan abrufbare Betreuung der Anwender an deren individuellen Arbeitsplätzen eine Grundvoraussetzung für die Bewältigung und die Akzeptanz der Veränderungen ist.

c) Die Aussage, dass z.B. im Bereich der Polizei und der Steuerfahndung in der Umsetzung des Gesetzes kein unmittelbarer Erfüllungsaufwand ausgelöst wird, muss bezweifelt werden. Es wird in den Justizbehörden der Länder voraussichtlich mehrere Softwarelösungen geben. Die Ermittlungsbehörden sind gezwungen, sich an diese Programme anzupassen. Die bei der Polizei und der Steuerfahndung geführten E-Akten müssen zwingend mit den Justizlösungen kompatibel sein.


4. Die Ermächtigung zur bundeseinheitlichen Festlegung von Standards für die Aktenübermittlung durch Rechtsverordnung der Bundesregierung nach § 32 Abs. 3 StPO-E wird von uns nach wie vor begrüßt. Wir weisen allerdings darauf hin, dass die (von der Bundesregierung und den Landesregierungen nach § 32 Abs. 2 StPO-E durch Rechtsverordnung festzulegenden) technischen Rahmenbedingungen für die Aktenführung unmittelbare Auswirkungen auf die für die Aktenübermittlung festzulegenden technischen Standards haben dürften. Es ist daher (schon im Hinblick auf die Entwicklungskosten) dringend erforderlich, die Anforderungen an die Führung und den Austausch der Akten zusammen zu betrachten. Auf der Länderebene arbeiten derzeit Arbeitsgruppen an abgestimmten Problemlösungen. Ob diese bereits bis zum 1.1.2016 abschließend erarbeitet werden können, erscheint zumindest zweifelhaft. Auf die zusätzliche Notwendigkeit der Berücksichtigung aller relevanten Erkenntnisse von fachkundigen Gremien und auch der Standardisierungsansätze des IT-Planungsrates haben wir bereits hingewiesen.

5. Bei Strafakten handelt es sich um Daten, deren sichere Übermittlung und Speicherung für die Strafverfolgung und damit für das Funktionieren des Rechtsstaats unerlässlich ist. Daher muss der Standard, der durch die Rechtsverordnung vorgegeben wird, demjenigen entsprechen, der unter § 8a IT-Sicherheitsgesetz-Entwurf für kritische Infrastruktur vorgegeben wird, auch wenn die dortigen Vorgaben zunächst sehr wenig konkret ausgestaltet sind. Dabei muss der jeweils aktuelle Stand der Technik berücksichtigt werden. Bei einer Prüfung, welcher Aufwand bei organisatorischen und technischen Vorkehrungen im Rahmen einer Verhältnismäßigkeitsprüfung analog § 8a Abs. 1 Satz 3 IT-Sicherheitsgesetz-Entwurf angemessen ist, muss bundesweit sichergestellt werden, dass die Sicherung des Systems vor Ausfall oder Beeinträchtigung als Grundvoraussetzung der Strafverfolgung von zentraler Bedeutung ist. Die Beschränkung der Aufbewahrung auf sechs Monate (§ 32e Abs. 4 StPO-E) von Dokumenten, die in Papierform oder in  elektronischer, aber nicht den Standards der E-Akte entsprechender Form eingegangen sind (mit Ausnahme von sichergestellten Beweismitteln und rückgabepflichtigen Dokumenten),  stellt – gerade im Strafverfahren, für das derzeit noch keine entsprechenden belastbaren Erfahrungen vorliegen – ein nicht zu unterschätzendes Risiko dar. Insbesondere dürfte die Abgrenzung zwischen Beweismitteln und sonstigen Dokumenten im Einzelfall schwierig und fehleranfällig sein; die Bedeutung eines sichergestellten Dokuments als Beweismittel kann sich gegebenenfalls auch erst im Laufe des Verfahrens herausstellen. Zu berücksichtigen ist hierbei auch, dass die rechtssichere Abgrenzung zwischen aufzubewahrenden und nicht aufzubewahrenden Dokumenten einen beträchtlichen Aufwand bereitet. Sämtliche Papierdokumente, die in Zusammenhang mit einem Strafverfahren stehen, sollten daher ohne Ausnahme bis zum Ende des Verfahrens, im Regelfall also bis zur Bestandskraft der Einstellung des Verfahrens oder dem Abschluss der Strafvollstreckung und der Kostenbeitreibung aufbewahrt werden.


6. Die in § 32f Abs. 3 StPO-E beabsichtigte Regelung, nach der „durch technische und organisatorische Maßnahmen (...) zu gewa?hrleisten (ist), dass Dritte im Rahmen der Akteneinsicht keine Kenntnis vom Akteninhalt nehmen ko?nnen“, wird in der Praxis nicht umsetzbar sein. Ziel der Regelung ist offenbar, nicht nur den Transport der elektronischen Dokumente bei der Akteneinsicht vor Missbrauch und unerlaubter Einsicht zu schützen, sondern dies auch bei der späteren Verwendung zu gewährleisten. Dieser Datenschutz kann aber nur so lange gewährleistet werden, wie die Verfügungsmacht über die Akten besteht. Sobald ein Verfahrensbeteiligter Einsicht in die Akte nimmt, hat er auch die Verfügungsmacht über die in der Akte dokumentierten Informationen. Eine Weitergabe – sei es durch Abschreiben oder auch mündlich – kann dann auch beispielsweise durch Wasserzeichen nicht vollständig ausgeschlossen werden. Unabhängig davon dürfte derzeit nicht abschließend geklärt sein, wie die Integrität und Authentizität eines Dokuments nach Anbringung eines individuellen Wasserzeichens überprüft werden kann, da die Signatur dadurch zerstört würde.
Ob das in der Begründung des Gesetzentwurfs genannte und aus der Privatwirtschaft bekannte Verfahren der „due diligence“-Prüfung über sog. „elektronische Datenräume“ auf diese Fälle anwendbar sein kann, ist zumindest zweifelhaft. Denn ein solcher „elektronischer Datenraum“ ist – nach dem Prinzip des gegenseitigen Vertrauens – nur dann sicher, wenn sich alle Zugriffsberechtigten an das Verbot der Weitergabe halten; gerade das ist aber das erkannte Risiko. Sollten die Zugriffe auf den „elektronischen Datenraum“ im Einzelnen erfasst und systematisch ausgewertet werden, dürfte dies im Strafverfahren aber zu einer nicht unerheblichen Beschränkung der Verteidigerrechte führen (da dann nachvollziehbar wäre, welche Dokumente der Verteidiger wann und in welchem Umfang eingesehen hat).

Schließlich wäre die geplante Regelung wie schon einmal angemerkt auch anfällig für die Geltendmachung von Schadensersatz- und Unterlassungsansprüchen (etwa von in den Akten erfassten Zeugen oder sonstigen Betroffenen) bei – gegebenenfalls angeblichen - Verstößen gegen die in § 32f Abs. 3 StPO-E geregelte Verpflichtung. In der jüngeren Vergangenheit ist der Inhalt von Verfahrensakten – nicht nur in Einzelfällen – sogar in den Medien veröffentlich worden, zum Teil sogar bevor die übrigen Verfahrensbeteiligten überhaupt selbst Kenntnis davon hatten. Der Ausgleich zwischen Geheimhaltungs- und Öffentlichkeitsinteresse ist kein spezielles Problem der elektronischen Akte und daher auch nicht in ihr zu lösen.


7. Gegen die Regelung der Akteneinsicht für nicht verteidigte Beschuldigte (§ 147 Abs. 4 StPO-E) und Verletzte (§ 406e Abs. 3 StPO-E) bestehen erhebliche Bedenken. Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) verlangt keine derartige Ausdehnung des Akteneinsichtsrechts. Wenn sich der Beschuldigte ohne vollständige Aktenkenntnis nicht ausreichend verteidigen kann, ist ihm ein Pflichtverteidiger beizuordnen. Bislang muss von Personen ohne Rechtsbeistand zunächst grundsätzlich vorgebracht werden, in welche Aktenteile sie Einsicht nehmen möchten, so dass konkret geprüft werden muss, ob diese beschränkte Einsicht gewährt werden kann. Vor jeder Gewährung der künftig grundsätzlich unbeschränkten Akteneinsicht müsste geprüft werden, ob dem Antragsteller Akteneinsicht in bestimmte Teile der Akte verwehrt werden kann oder muss; alle Aktenteile müssten etwa auf Anschriften von Zeugen (vgl. § 200 StPO) oder sonstige schützenswerte oder geheimhaltungsbedürftige (insbesondere personenbezogene) Angaben durchsucht werden. Dies würde zu einem erheblich erhöhten Zeit- und Arbeitsaufwand führen, der mit dem vorhandenen Personal voraussichtlich nicht zu bewältigen wäre. Auch das mit der geplanten Neuregelung verbundene Risiko einer Entprofessionalisierung der Verteidigung könnte eine nicht unerhebliche Mehrbelastung gerade der Amtsgerichte zur Folge haben. 

Auch die Verhinderung der Verbreitung des Akteninhalts – z. B. im Internet – rückt so in noch weitere Ferne. Zumindest aber müsste die Strafbarkeit einer solchen Verbreitung angemessen neu geregelt werden.


8. Die in § 32b StPO-E enthaltene Verordnungsermächtigung zur verbindlichen Einführung von Formularen ist zu allgemein gehalten und konkreter zu fassen. Denn es ist verfassungsrechtlich problematisch, wenn die Ermächtigung zum Erlass einer Rechtsverordnung entgegen Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG keine ausreichenden Angaben zu Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteilten Ermächtigung enthält und damit zu unbestimmt ist. Erforderlich ist daher eine klare Regelung, für welche Bereiche und zu welchen Zwecken die Formulare eingesetzt werden sollen.

a) Wenn sich die Verordnungsermächtigung nur auf bestimmte Verfahrenshandlungen oder Anträge beziehen soll, worauf die in der Begründung genannten Beispiele (Einreichung einer Strafanzeige oder eines Strafantrags, Zeugenentschädigungsantrag, Einspruch gegen einen Strafbefehl) hindeuten, sollte dies auch im Gesetzestext klar zum Ausdruck kommen; zumindest sollte aufgenommen werden, dass die Formulare nicht die das Strafverfahren selbst betreffende Kommunikation zwischen dem Gericht und den Verfahrensbeteiligten betreffen.
 
b) In Bezug auf das Strafverfahren selbst erscheint es durchaus sinnvoll, für die gerichtliche Weiterverarbeitung der mitgeteilten Informationen bestimmte Metadaten und auch sonstige für die Verfahrensbearbeitung notwendige Informationen wie etwa das Aktenzeichen, die für das Rubrum benötigten Daten oder die Adressen von Zeugen als XML-Datensatz zur Verfügung zu haben, um so eine erneute Erfassung zu vermeiden (vgl. hierzu etwa die OT-Leit-ERV der BLK und das Gutachten der Großen Strafrechtskommission des DRB „Die elektronische Akte im Strafverfahren" 2007, S. 46 ff.). Alle darüber hinausgehenden Daten und Informationen, die Gegenstand der formell- und materiell-rechtlichen Auseinandersetzung und Prüfung durch das Gericht sind, entziehen sich jedoch weitgehend einer schematisch vorgegebenen Darstellung und erst recht einer standardisiert-formularmäßigen Abfrage. Denkbar und durchaus sachgerecht kann es sein, bestimmte Rahmendaten formularmäßig abzufragen; die Einführung des Elektronischen Rechtsverkehrs darf jedoch nicht dazu führen, dass den Verfahrensbeteiligten das Recht (und die Pflicht) genommen wird, die zur Verteidigung für notwendig gehaltene Prozessführung eigenverantwortlich zu gestalten.

c) Vorstellbar erscheint in diesem Zusammenhang allenfalls eine Verfahrensweise, bei der Erklärungen – wie etwa die in der Begründung des Gesetzentwurfs genannte Strafanzeige, der Strafantrag oder der Zeugenentschädigungsantrag – in bestimmte Eingabefelder eingetragen werden müssen, um so deren Auffinden und Bearbeitung zu erleichtern. Aber schon die Vorgabe bestimmter Wertelisten oder die Beschränkung auf vordefinierte Inhalte für Elemente, die typischerweise nur bestimmte Werte enthalten können, sind problematisch und dürften mit einer eigenverantwortlichen Verfahrensführung nur dann vereinbar sein, wenn kein Zwang zur Nutzung besteht und jederzeit die Möglichkeit zum Vortrag im Freitext bleibt.

d) Im Übrigen ist nicht ersichtlich, warum in einer Rechtsverordnung nach § 32b StPO-E für Formulare andere Identifikationsanforderungen aufgestellt werden können als für sonstige eingehende Dokumente nach § 32a StPO-E.


9. Zusätzlich möchten wir noch auf folgende Punkte hinweisen:

a) Nach der Begründung zu § 32a Abs. 5 StPO-E muss der sichere Übermittlungsweg aktenkundig sein. Aus dem Gesetzestext ergibt sich dies (anders als noch in der Vorversion) nicht mehr.

b) In § 32d Satz 1  StPO-E regen wir an, nach „Privatklage“ noch „oder die Anschlusserklärung als Nebenkläger“ zu ergänzen. Der Entwurf geht wohl selbst auch davon aus, dass auch der anwaltlich vertretene Nebenkläger erfasst werden soll, denn auf S. 45 der Begründung ist vom nicht vertretenen Nebenkläger die Rede, für den die Vorschrift nicht gelten soll.
 
c) Zur Vermeidung von Fehlinterpretationen halten wir es bei § 32f StPO-E für sinnvoll, jedenfalls in die Begründung (S. 51) einen weiteren Hinweis aufzunehmen, dass sich nicht nur das "Ob", sondern auch der Umfang der Akteneinsicht nach den einschlägigen Vorschriften (z.B. §§ 147, 406e, 474ff. StPO) richtet.

d) Es fällt auf, dass § 314 Abs. 1 StPO nicht geändert werden soll. Nach wie vor könnte daher (im Widerspruch zu § 32d StPO-E) die Berufung schriftlich eingelegt werden. Gleiches gilt in Bezug auf § 350 StPO.


gez. Dr. Bernhard Joachim Scholz, Mitglied des DRB-Präsidiums